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Beitrag vom 07.07.2006
Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden
Christiane Sanaa
Die iranische Familie aus Köln gerät in einen Strudel widersprüchlicher und verrückter Ereignisse. Ihr Weg zur deutschen Lebensart verläuft zwischen Ehekrisen, Kröten-Rettung und grenzt ans Absurde.
Das Ganze beginnt schon mit einem Widerspruch: Sima Khanoom will Deutsche werden, um eine gute iranische Mutter zu sein. Denn sie will dort bleiben, wo auch ihre fast erwachsenen Kinder leben.
Der Sohn Reza, ein gepiercter Jugendlicher, des Persischen kaum mächtig, wurde bereits in Deutschland geboren. Die Tochter Roya, von der wir die Geschichte erfahren, floh mit ihrer Mutter als Kind durch die Wüste. Ihre Erinnerungen an den Durst und die Hitze lassen sie eher für Grönland schwärmen als für ihren Geburtsort. Eine Rückkehr in den Iran ist auch ohne die Kinder nicht möglich. Der Vater musste als Offizier der Armee vor dem Khomeini-Regime flüchten, das ihn mit dem Tod bedrohte. Und diese Gefahr ist bis heute nicht gebannt.
Also beschließt Sima Khanoom Deutsche zu werden. Ihre erste Hürde ist ihr Ehemann Abbas. Als stolzer Perser, der auf eine Jahrtausend alte heroische Geschichte seines Landes zurückblicken kann, ist er entsetzt über das Vorhaben seiner Frau. Er bezichtigt sie des Verrats. Er versucht immer wieder sie mit seiner männlichen Autorität, die in der Familie keiner so richtig ernst nimmt, unter Druck zu setzen. Um seine Frau umzustimmen, schaltet er sogar ihre Mutter im Iran ein. Doch nichts kann sie aufhalten. Schließlich wendet er sich der Mystik zu, mutiert zum selbst gebastelten Derwisch und rasiert sich nicht mehr. Das stärkt seine Position als Familienoberhaupt allerdings nicht, sondern veranlaßt seine Frau dazu, das eheliche Schlafzimmer zu verlassen.
Sima Khanoom läßt sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Dieses droht vielmehr daran zu scheitern, dass sie trotz aller Bemühungen nicht heraus bekommt, was es eigentlich bedeutet, "eine Deutsche zu sein". Je mehr sie sich in das Thema "deutsche Lebensart" vertieft, um so verwirrter ist sie. Als sie beginnt, die politischen Debatten zu verfolgen und gewissenhaft studiert, was die deutschen PolitikerInnen von Merkel über Schily bis Fischer zum Thema sagen, fällt sie in tiefe Verzweiflung. So widersprüchlich und verworren sind deren Äußerungen. Sima Khanoom ist sehr niedergeschlagen, so dass ihre Familie und sogar ihr Mann ihr helfen wollen.
Den Durchbruch erfährt sie, als sie Herbert Weigel, einen alleinstehenden Nachbarn kennenlernt. Als Liebhaber von Brahms und von Friedhofsatmosphären führt er sie in die deutsche Kultur ein. Sima Khanoom tritt mit ihm in eine Kröten-Rettungsgruppe ein und bereitet sich auf ihren spektakulären Auftritt beim Kölner Wasserkarneval vor. Dadurch, so hofft sie, eine Deutsche werden zu können.
AVIVA-Tipp: Das Buch führt die LeserInnen in die widersprüchliche Lebenssituation von MigrantInnen, die sich zwischen alter Heimat und neuem Lebensmittelpunkt, zwischen verschiedenen Lebensentwürfen und Moralvorstellungen und zwischen Schein und Sein bewegen. Das Besondere dabei ist, dass Fahimeh Farsaie diese ernste und schwierige Problematik mit viel Witz und Sinn für das Groteske darstellt. Die Übertreibung verdeutlicht die Widersinnigkeit der Situation und macht sie auch für Nicht-MigrantInnen nachvollziehbar. Der satirisch-humorvolle Umgang mit dem Thema bietet einen anderen Blick auf die Problematik und eröffnet so einen Zugang jenseits endloser immer wiederkehrender Debatten.
Zur Autorin:
Fahimeh Farsaie ist gebürtige Iranerin und wurde 1952 in Theheran geboren. Sie studierte Jura und Kunstgeschichte und arbeitete im Iran als Redakteurin und Kunstkritikerin für verschiedene Zeitungen. Bereits unter dem Schah-Regime wurde sie wegen einer kritischen Erzählung für 18 Monate inhaftiert. Ihre "unstillbare Leidenschaft für engagierte Kunst und Literatur" machte ihr das Leben auch unter der Regierung Khomeinis schwer. Als sie erneut für eine Erzählung gegen den Krieg verfolgt und mit dem Gefängnis bedroht wurde, verließ sie den Iran und kam 1983 nach Deutschland. Hier arbeitet sie als Freie Journalistin u.a. für die tageszeitung, Freitag, Kölner Stadtrevue, Saarländischer Rundfunk und Deutschlandfunk.
Sie erhielt diverse Literatur- und Drehbuchpreise, sowie den iranischen Fernsehpreis "Tamascha" für junge AutorInnen und den BARANs-Fond-Preis für die Literatur im Exil.
Fahimeh Farsaie
Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden
Ulrike Helmer Verlag, erschienen April 2006
ISBN 3-89741-200-4
17,90 Euro
260 Seiten, kartoniert90008115&artiId=5204980"