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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 30.08.2006


Marc Buhl. Das Billardzimmer
Almut Münch

Wer war Gero von Nohlen, der Judenretter und SS-Mann? Sein Enkel macht sich auf die Suche und merkt schnell: Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist noch nicht einmal vergangen.




Gero von Nohlen der Zweite

Gero hat mit seinem Großvater nichts außer dem Namen gemein: Er ist weder geschäftstüchtig noch karrierebewusst und schon gar keiner, von dem man spricht. Eigentlich hat Gero nichts aufzuweisen außer einem zweitklassigen Job als freier Mitarbeiter bei einer kleinen Konstanzer Tageszeitung und seiner Zugehörigkeit zur Nohlen-Sippschaft. Denn Gero von Nohlen - der Großvater - war ein Held und lebt im Lokalpatriotismus fort als schwerreicher Immobilienbaron, als Mitbegründer des Bankhauses Giebendorff & Söhne, als Baubürgermeister und vor allem als einer der wenigen Deutschen, die dem Terror des Dritten Reiches etwas entgegen setzten: Er verwaltete die Häuser der geflüchteten Juden und half ihnen gar mit gefälschten Pässen zur Flucht über die Schweizer Grenze, erzählt man sich. Und weil es keiner so gut wissen kann wie der Enkel, bittet man Gero, anlässlich des 50-jährigen Bankjubiläums eine Laudatio für die Festschrift zu verfassen.

Gero von Nohlen der Erste

Was als kleine Gefälligkeit gedacht war, erweist sich für Gero, den Enkel, als große Aufgabe und mündet bald in eine grundlegende Auseinandersetzung mit seiner Familienvergangenheit. Denn die Bilder wollen nicht zusammenpassen, die Gero, der Junge, sich in Gesprächen und Interviews von dem alten Gero macht und die so unterschiedlich zu seiner Erinnerung sind. Er erinnert einen verschlossenen, bisweilen cholerischen Patriarchen, einen Kinderprügler, der auf seltsame Weise gebrochen auf ihn wirkte - der Rest der Welt aber einen stolzen, zupackenden Mann mit Charisma. Wo liegt die Wahrheit, fragt Gero sich beunruhigt und beginnt dem Helden Gero nachzuforschen. Ängstlich zunächst und eingeschüchtert, bald aber immer eifriger und mit Erfolg. Der Schlüssel zu seinem Großvater, spürt er, liegt im Billardzimmer der Familienvilla und in der eisern totgeschwiegenen Geschichte, die auf dem Raum lastet.

Die Spieglers

Im Billardzimmer versteckte Gero von Nohlen, der Held, nämlich ab 1941 ein jüdisches Ehepaar, dessen Spur sich kaum fünf Jahre später so gründlich verwischt, dass eine Rekonstruktion der Ereignisse selbst für Historiker eine Herausforderung darstellt. Und die einzig überlebende Verwandte, Gero von Nohlens Schwester, schweigt verbissen. Der Enkel weiß nach mühevollem Recherchieren nur, dass die wunderschöne Eva und ihr Mann, der Pianist Helmut, als Verwandte vorgestellt wurden, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und dass Helmut sich während seiner freiwilligen Gefangenschaft in die Welt der Musik flüchtete, während Eva ihrem Retter bei der Buchhaltung für das Immobiliengeschäft zur Hand ging. Dass das Zusammenleben zweier Ehepaare - der von Nohlens und der Spieglers - auf engem Raum und mit ebenso geringem Spielraum nicht unproblematisch war und verbotene Gefühle gerade in Zeiten des Nationalsozialismus lebensgefährlich werden konnten, ahnt Gero, der Junge, als er ein Foto aus der Zeit findet, das mehr sagt als verschwiegene Worte und vielsagende Mienen.

Schuld und Sühne

Das World Wide Web führt ihn schließlich zu Eva Spieglers Enkelin und zu Eva selbst - Helmut bleibt jedoch unauffindbar. Und in einem Altersheim in den USA erfährt Gero schließlich die wahre Geschichte seines Großvaters, die gleichzeitig die Geschichte der Spieglers, eine seltsame Verwandtschaftsgeschichte und vor allem die Geschichte einer doppelten Schuld ist. Denn in dem Maße, wie Eva ihr Mann entglitt, der vor der Realität komplett in die Musik flüchtete und menschliche Nähe schließlich komplett verweigerte, wuchs etwas Unheilvolles zwischen Gero, dem Helden, und ihr. Ein Gefühl, das Helmut schließlich das Leben kosten sollte, damit er nicht mehr länger im Weg stand. Ein Gefühl, das sowohl Eva, das Opfer, als auch Gero, den SS-Mann, zu Schuldigen machte und das dem Gewissen nicht standhalten konnte.

AVIVA-Tipp: Marc Buhl erzählt in seinem neuen Roman nicht nur von dem doppelt gescheiterten Versuch, sich von menschlicher Schuld reinzuwaschen, sondern auch vom Fluch der Vergangenheit, die unweigerlich und immer in die Gegenwart abstrahlt, vor allem, wenn es sich bei dem Fluch um Liebe und ihre Folgen handelt. Und dies in einer Eindringlichkeit, die gleichzeitig fesselt, abstößt und dabei so nachvollziehbar ist wie menschliche Untiefen es nur sein können. Durch die raffinierte Verschränkung mehrerer Erzählperspektiven liest sich Das Billardzimmer wie ein Krimi durch die letzten sechzig Jahre deutscher Geschichte, der jedoch ungleich mehr zu bieten hat als ein Opfer und einen Schuldigen: Buhl webt gleichsam die gesamte conditio humana in seinen Text und öffnet den Blick für eine individuelle Verantwortung, die keine individuelle Schuld braucht.

Zum Autor: Marc Buhl, 1967 geboren, studierte Betriebswirtschaft, Politikwissenschaft, Germanistik und Anglistik und lebt heute als freier Autor in Freiburg im Breisgau. Das Billardzimmer ist sein dritter Roman nach Der rote Domino und Rashida oder Der Lauf der Quellen des Nils (alle bei Eichborn verlegt).


Marc Buhl
Das Billardzimmer

Eichborn Verlag, erschienen Juli 2006
Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten
ISBN 3-8218-5781-1
19.90 Euro90008115&artiId=5468437"



Literatur

Beitrag vom 30.08.2006

AVIVA-Redaktion