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Beitrag vom 30.10.2007
Wie kann man nur so hässlich sein, von Constance Briscoe
Anna Opel
Die erfolgreiche englische Anwältin und Richterin Constance Briscoe hat die eigene Leidensgeschichte aufgeschrieben: "Geschichte einer Kindheit, die eine Hölle war"
Ganz am Ende dieser bizarren Erfolgsgeschichte kann man einfach nicht anders. Man muss ein paar Tränen verdrücken, als die Heldin ihrer bösen Mutter für immer Lebewohl sagt. Es sind Tränen des Mitleids über ein schier unfassbares Kinderschicksal, Tränen der Erleichterung über die lang ersehnte Freiheit einer jungen Frau, der im wahrsten Sinne des Wortes "nichts geschenkt" wurde.
Unter dem falschen Vornamen Clare wächst die Erzählerin in einer kinderreichen Patchworkfamilie im London der 70er Jahre auf. Ihre Eltern sind Einwanderer aus Jamaika. Das Buch beginnt mit einer Szene, in der sich die kleine Clare auf dem Jugendamt nach einem Platz im Kinderheim erkundigt. Sie will nicht mehr nach Hause, denn dort ist es nicht lustig.
Die Mutter Carmen lebt von Clares Vater George getrennt und ist mit dem minder bemittelten Eastman zusammen, mit dem sie ständig streitet. Wenn George zu Hause auftaucht, um seinen Kindern etwas zu Essen zu bringen, oder um Carmen zu beklauen, gibt es regelmäßig Keilereien. Worunter Clare alias Constance aber all die Jahre am meisten leidet, ist das gleichbleibende Desinteresse, das Fehlen jeglicher Zuwendung von ihrer Mutter. Von den vielen Kindern dieser Mutter ist sie allein ungeliebt, physisch und psychisch gequält.
Clare nässt über Jahre hinweg nachts ein. Die Mutter nimmt ihr das täglich aufs Neue übel. Mit allen Mitteln, mit Schlägen, mit einem für BettnässerInnen entwickelten Weckgerät versucht sie, der Tochter diese "Angewohnheit" auszutreiben. Und die Mutter tut nur das Allernötigste zur Versorgung. Jahr für Jahr bekommt Clare dieselbe Puppe, denselben Kreisel zu Weihnachten geschenkt. Immer wieder wird sie von ihrer Mutter an den empfindlichsten Körperstellen gezwickt, an den Haaren gezogen, getreten und geschlagen.
Eines Tages muss Clare an der Brust operiert werden, weil sich dort durch die Misshandlungen der Mutter Knoten gebildet haben. In der Folge hat sie eine Infektion, bleibt über Wochen zu Hause, sieht Anwaltsserien im Fernsehen. Sie beschließt im zarten Alter von zehn Jahren, Anwältin zu werden. Unter sagenhafter Kraftanstrengung erreicht sie schließlich ihr Ziel.
Alle Elemente des Märchens sind in dieser wahren Geschichte enthalten, die erstaunlich nüchtern, beinahe dokumentarisch daher kommt: Das Böse bleibt undurchschaubar in Gestalt der Mutter. Das Gute liegt fern, doch erreichbar in Gestalt eines Anwalts, den die Schülerin Clare bei einem Ausflug zum Gericht in der Kantine kennen lernt. Dann ist da noch eine Lehrerin aus Polen, bei der das Kind eine kurze, glückliche Weile leben darf. Als Clare dieser Frau von ihren Berufsplänen erzählt, bricht sie in Gelächter aus. Und sagt dann einen wichtigen Satz: "Es gibt nur einen Mensch, der dir im Weg stehen kann. Du selbst."
Das Buch schildert die Chronologie dieser Kindheit, ohne zu analysieren oder zu interpretieren. Das macht die Lektüre zu Beginn der Geschichte etwas karg. Je mehr man allerdings einsteigt in diese moderne Aschenputtelerzählung, umso interessanter wird Clares Überlebenskampf. Irgendwann beginnt die Leserin, den eisernen Willen dieses Mädchens, seine Cleverness, seine Energie ursächlich mit dem gänzlich unverschuldeten Schicksal des Ungeliebtseins zu verbinden. Man beginnt sich zu fragen, ob das Mädchen auch ohne diese Wände, gegen die sie ständig anrennt, so viel Ehrgeiz entwickelt hätte. Und wie im Märchen hofft man, die Heldin werde erlöst, durch den rettenden Vater, einen plötzlichen Sinneswandel der Mutter, irgendeinen deus ex machina. Nichts von all dem geschieht. Clare hat von frühester Kindheit an gelernt, dass sie von anderen nichts zu erwarten hat. Sie kämpft sich selbst durch die Dornenhecke, sie ist Dornröschen und Prinz zugleich.
Bis zur Immatrikulation in der Juristischen Fakultät, die die Mutter noch torpediert, indem sie sich weigert, ein Antragsformular für Studienbeihilfe zu unterschreiben, bahnt Clare sich den Weg durch ihre Schullaufbahn. Mit zwei Jobs verdient sie sich neben der Schule ihr Auskommen selbst. Als die Mutter bemerkt, dass Clare Geld hat, muss sie, die mit zwei ihrer Schwestern in der alten Wohnung zurückgelassen wurde, von diesem Geld Miete und Strom bezahlen. Für die junge Frau kann das Leben nur besser werden. Und es ist gut geworden, wenn man der biografischen Notiz zur Autorin auf dem Klappentext Glauben schenkt.
Zur Autorin: Constance Briscoe, geboren 1957 in London, stammt aus einer kinderreichen Familie von Einwanderern aus Jamaika. Sie ist Anwältin und wurde in den 1990ern als eine der ersten Farbigen in England zur Richterin ernannt. Sie ist verheiratet mit einem Anwalt der Krone, das Paar hat zwei halbwüchsige Kinder.
AVIVA-Tipp: "Wie kann man nur so hässlich sein" ist eine autobiographische Geschichte, nüchtern und unsentimental erzählt und doch sehr berührend. Die Erzählerin behält durchgängig die Perspektive eines Kindes bei, das sehr früh erwachsen werden muss.
Ein Lehrstück für alle, die ein hochgestecktes Ziel für unerreichbar halten und unterwegs vielleicht vergessen haben, wie wichtig es ist, überhaupt ein Ziel vor Augen zu haben.
Constance Briscoe
Wie kann man nur so hässlich sein
Geschichte einer Kindheit, die eine Hölle war
Originaltitel: Ugly.
Aus dem Englischen von Sybille Hunzinger
dtv premium, erschienen Juli 2007
ISBN 978-3-423-24615-6
Euro 14,50
Klappenbroschur, 300 Seiten