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Beitrag vom 05.11.2003
Schwester und Bruder
Jana Scheerer
Ulla Lenze erzählt in ihrem Debütroman von einem Geschwisterpaar, einer Reise nach Indien - und Einigem mehr: Zwischen den Zeilen verhandelt sie elementare philosophische und religiöse Themen
"Wie umarmen uns. Die Berührung ist unbestimmt und sperrig." So beschreibt Martha, aus deren Perspektive der Roman geschildert ist, die Begegnung mit ihrem aus Indien zurückgekehrten Bruder. Dieses Sperrige, Unbestimmte ist es tatsächlich, was über weite Teile der Geschichte das Verhältnis von Martha und Lukas ausmacht.
Denn die schon vor Lukas´ Abreise schwierige Beziehung der Geschwister ist nach seinen zwei Jahren in Indien noch komplizierter geworden. Lukas funktioniert nicht mehr - er erzählt eigenartige Geschichten aus Indien, stößt alte Freunde vor den Kopf und erblindet schließlich sogar. Martha beobachtet all das distanziert, verwundert und fast abgestoßen.
Es ist Ulla Lenzes großes Verdienst, dass es in ihr dieser Konstellation gelingt, keine ihrer Figuren vorzuführen: Weder Lukas, der nicht als esoterischer Spinner dargestellt wird, noch Martha, deren starke Ablehnung gegen den Bruder durch ihre große Angst vor einem Ausbruch der unter der Decke schwelenden, gemeinsamen Geschichte verständlich wird.
So stehen sich die Bedürfnisse der Geschwister entgegen: Während Martha Rationalität, Normalität und Ruhe sucht, will Lukas sich bis zum Letzten erforschen. Dass er dafür nach Indien fährt, könnte in die Klischeefalle führen, die Ulla Lenze jedoch geschickt umschifft. Der entscheidende Kunstgriff ist hier die Wahl der Perspektive: Da uns alles durch Marthas distanzierte Augen beschrieben wird, kommt niemals das Gefühl auf, das alles schon hundertmal gehört zu haben. Zudem wird so - auch ohne langatmige Reflexionen - Marthas Persönlichkeit schon durch ihren Erzählgestus beschrieben.
Das wird besonders interessant, als sie im zweiten Teil des Buches mit Lukas nach Indien aufbricht, um dort Heilung für seine Blindheit zu finden. Hier trifft nicht westliche Rationalität auf östliche Spiritualität - Martha bringt dieses Aufeinandertreffen auf eine ganz andere, einfache Formel: "Ihr Land interessiert mich nicht." Und was Martha im Laufe der Reise verliert, ist nicht ihre Skepsis Indien gegenüber, sondern ihr Desinteresse für Dinge, die ihr Angst machen.
Besonders genial ist in diesem Zusammenhang die Figur des mitteilungswütigen Chauffeurs Viju, der aufgrund eines Erlebnisses während des Monsuns an die Menschen und nicht an Gott glaubt, wie er Lukas und Martha erzählt: Als er damals von einer Flutwelle erfasst und ins Meer gezogen wurde, betete er in seiner Todesangst nicht an einen Gott, sondern dachte an seine Familie. Die anderen Menschen, die verzweifelt alle möglichen Götter angerufen hatten, starben, Viju wurde gerettet. "Da sieht man´s", meint Viju: "Es lohnt sich mehr, an die Menschen zu glauben."
So verhandelt Ulla Lenze religiöse und philosophische Themen auf oft amüsante Weise und hält sich bei aller Tiefe stets fernab von theoretischen Traktaten. Kein Wunder, dass "Schwester und Bruder" in kurzer Zeit schon allerhand Preise abgestaubt hat: In Klagenfurt bekam Ulla Lenze den Ernst-Willner Preis für einen Ausschnitt des Textes, der Jürgen Ponto Preis für das beste Debüt wurde ihr verliehen und der Rolf-Dieter Brinkmann Förderpreis der Stadt Köln.
Ulla Lenze wurde 1973 in Mönchengladbach geboren und studierte Musik und Philosophie in Köln. Im Jahr 2002 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.
Der AVIVA-Tipp: Zum zwei, drei oder viermal Lesen!
Ulla Lenze
Schwester und Bruder
DuMont, August 2003
ISBN 3-8321-7854-6
19,90 Euro
222 Seiten, gebunden
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