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AVIVA-BERLIN.de im September 2024 - Beitrag vom 15.09.2024


Ingeborg Gleichauf: Als habe ich zwei Leben. Brigitte Reimann
Silvy Pommerenke

Die Literaturwissenschaftlerin Ingeborg Gleichauf hat sich der verstorbenen DDR-Autorin Brigitte Reimann angenommen, die zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts zählt. Eine klassische Biografie? Nein, mehr als das!




Lesehunger

In sehr persönlichen Worten schreibt Ingeborg Gleichauf über Brigitte Reimann (1933 bis 1973). Davon, wie ihre Leidenschaft für die DDR-Autorin entstand, und wie sie fast zur Sucht wurde. Sie nennt das "eine Art Reimann-Lesehunger". Diese Passion ist nur allzu verständlich, denn Brigitte Reimann war eine der erfolgreichsten DDR-Autorinnen und weit über die Landesgrenzen bekannt. Sie war Vorbild für die sogenannten "Ankunftsliteratur" (ihr Roman "Ankunft im Alltag" von 1961 stand Pate für die Namensgebung), die eng mit der literarischen Bewegung "Bitterfelder Weg" zusammenhing, und sie erhielt wichtige Literaturpreise der DDR, wie den Heinrich-Mann-Preis oder den Kunstpreis des FDGB.

Brigitte Reimann war befreundet mit literarischen Größen wie Christa Wolf und Reiner Kunze, litt - wie viele andere Schriftsteller*innen - unter der Zensur und Selbstzweifeln, kämpfte erfolglos gegen ihre Krebserkrankung an und arbeitete nichtsdestotrotz die letzten zehn Jahre unermüdlich an ihrem Lebenswerk, dem unvollendet gebliebenen Roman "Franziska Linkerhand". Begonnen im November 1963, wurde dieser erst 1974 posthum veröffentlicht und 1981 unter dem Titel "Unser kurzes Leben" mit Simone Frost in der Hauptrolle verfilmt. In einem Brief erklärt Reimann ihre Zweifel beim Schreiben ihres letzten Romans: "Aber nicht so sehr die Arbeit erschöpft mich derart, daß ich mich abends fühle, als hätte ich Steine gekarrt; vielmehr ist es der Kampf gegen das eigene Unvermögen, das Bewußtsein der Grenzen, die man doch immer wieder zu verschieben, zu erweitern versucht."

Dass Brigitte Reimann heutzutage fast vergessen ist, ist ein großer literarischer Wermutstropfen, wird das doch ihrer produktiven und kreativen Arbeit nicht gerecht. Umso wichtiger, dass Ingeborg Gleichauf nun mit dem Buch "Als habe ich zwei Leben" Brigitte Reimann wieder ein wenig in die literarische Öffentlichkeit bringt.

Männersammlerin

Ingeborg Gleichauf will keine Biografie über die "Prosaarchitektin" Reimann schreiben, sondern "Erkundungsversuche, Spuren in eine spannende, rätselhafte Sprachwelt, die ihr zu Hause nirgendwo hat und doch in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft angesiedelt ist". Sie nähert sich der Schriftstellerin an, indem sie deren Leseerfahrungen anderer Autor*innen analysiert (zu denen Rousseau, Tolstoi und Stendhal gehörten, aber auch Simone de Beauvoir oder Christa Wolf), ihre frühe Prosa beleuchtet, einen Blick auf ihre Freundschaften wirft und ihre Briefwechsel und Tagebücher auswertet. Gleichauf lässt auch die zahlreichen Beziehungen zum anderen Geschlecht nicht aus und nennt Reimann "die Männersammlerin". In ihrem scheinbar unstillbaren Hunger nach Männern gleicht Reimann der sieben Jahre älteren Ingeborg Bachmann, die ebenso aus dem Literaturbetrieb nicht wegzudenken war. Im Gegensatz zu Bachmann lässt sich Reimann allerdings auf vier Ehen ein, die aber nicht von langer Dauer waren. Bereits während der Ehen geht sie neue Beziehungen oder Affären zu anderen Männern ein und ist sich nie wirklich sicher bei der Partnerwahl. Es scheint fast ein wenig beliebig zu sein, wie sie ihre Männer auswählt und heiratet, auch wenn sie anfangs durchaus euphorisch ist und bisweilen ein schlechtes Gewissen gegenüber den Gehörnten hat. Im Mai 1960 vertraut Brigitte Reimann ihrem Tagebuch an: "Ich sammele wieder Männer, fühle mich wieder jung, strahlend, lasse mich anbeten und weiß meine Heimat Daniel. Die anderen - lieber Himmel, ein bisschen Kitzel, Lust am Locken und Sich-Entziehen, Bestätigung endlich und tröstliches Hinweg über meine krankhaften Minderwertigkeitskomplexe."

Freundschaften

Ingeborg Gleichauf widmet sich in einem eigenen Kapitel den Freundschaften Brigitte Reimanns. Allen voran der zu ihrer Jugendfreundin Veralore Schwirtz. Diese wanderte 1947 in die Bundesrepublik raus und es folgte – nach einigen Dissonanzen – ein umfangreicher Briefwechsel bis 1953. Wie wichtig Reimann diese Freundschaft war, bezeugt eine Textstelle aus einem Brief vom 11. Dezember 1951: "Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, was für ein ödes und langweiliges Leben es ohne Deine lieben Briefe geworden wäre. Du bist eben doch die einzige, der ich alles, alles sagen, der ich immer mein Herz ausschütten kann." Nichtsdestotrotz wird der Briefwechsel für 20 Jahre ausgesetzt, bis er dann, kurz vor dem Tod Reimanns, wieder aufgenommen wurde. Diese war bereits schwer krank, wovon sie schonungslos in ihren Briefen erzählte. So schrieb sie beispielsweise, dass der Tod "geräuschlos und unaufhaltsam in den Wirbeln frißt".

Unerwünschter Individualismus

Brigitte Reimann war nicht nur eine genaue Menschenbeobachterin und Figurenzeichnerin, sondern auch eine politische Schriftstellerin, deren staatskritische Aussagen häufig der Zensur zum Opfer fielen. Wobei sie anfangs vom sozialistischen System überzeugt war, und ihre politische Anschauung erst im Laufe der Jahre Risse bekam. Die Zensur mäkelte schon an kleinen Amerikanismen herum, so wurde beispielsweise das Wort "City" aus einem ihrer Bücher gestrichen. Die Angst vor einer Amerikanisierung der DDR war anscheinend zu groß. Außerdem wurde ihr Individualismus nicht gern gesehen, und es gab Befürchtungen, dass sie sich dem Kollektiv nicht unterordnen könne.

Krankheit und Tod

Bereits als Teenager erfuhr Brigitte Reimann einen gesundheitlichen Schicksalsschlag. Als Vierzehnjährige erkrankte sie an Kinderlähmung und musste lange Zeit im Krankenhaus verbringen. Die Folge davon war ein lebenslanges Hinken, worunter sie häufig litt. Dies war allerdings auch die Zeit, in der sie beschloss, Schriftstellerin zu werden. Zwanzig Jahre später, im Sommer 1968, wurde sie dann zum ersten Mal wegen ihrer Krebserkrankung operiert. Es sollten noch zahlreiche andere Operationen folgen. Sie ertrug die Narben ihres "tranchierten" Körpers mit Fassung, aber auch mit schonungsloser Ehrlichkeit. In einem Brief an Christa Wolf schrieb sie: "Es ist schrecklich, in so einem zerbrochenen Körper eingesperrt zu sein. Bei jeder Bewegung könnte ich schreien vor Schmerz. Und das soll nun Jahr für Jahr schlimmer werden und schließlich in die Matratzengruft führen." Im Februar 1973 verlor sie schließlich den Kampf gegen den Krebs und starb mit nur 39 Jahren. Ihre Arbeit der letzten zehn Jahre an dem Roman "Franziska Linkerhand" blieb unvollendet.

AVIVA-Tipp: Ingeborg Gleichauf ist mit der Biographie (die keine sein will) über Brigitte Reimann ein großer Wurf gelungen. Sie macht etwas, was vor einigen Jahren in der Literaturkritik noch undenkbar gewesen wäre: sie stellt Zusammenhänge zwischen Werk und Autorin dar und analysiert diese Verbindungen klug und kenntnisreich. Neben zahlreichen Zitaten aus den Tagebüchern Brigitte Reimanns (die sie "Übungsfelder des Schreibens" nennt) und deren Briefwechseln, greift Ingeborg Gleichauf ebenso die Erzählungen und Romane der DDR-Autorin auf und gibt dazu kurze Inhaltsangaben und Interpretationen wieder. Das ist insofern informativ, wenn man sich dem literarischen Werk Reimanns zum ersten Mal nähert, oder aber auch, um die eigene lange zurückliegenden Reimann-Lektüre neu zu erschließen.

Brigitte Reimann: geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998).
Reimann hat nicht nur Romane und Erzählungen geschrieben, sondern auch Hör- und Fernsehspiele. Sie war Teilnehmerin bei nationalen Schriftsteller*innentreffen, beispielsweise der II. Bitterfelder Konferenz, sowie bei internationalen Tagungen. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste.

Ingeborg Gleichauf: Philosophin, Schriftstellerin und Lyrikerin, wurde 1953 geboren und ist im Schwarzwald aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Philosophie und promovierte über Ingeborg Bachmanns Roman "Malina" und Elfriede Jelineks Drehbuch zum gleichnamigen Film von Werner Schroeter. Sie veröffentlichte erfolgreiche Biographien über Schriftsteller*innen, Philosophinnen und Dramatikerinnen, darunter "Hannah Arendt" (2000), "Sein wie keine andere. Simone de Beauvoir" (2007) und "Denken aus Leidenschaft" (2008). 2010 erschien bei Nagel und Kimche "Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine Biografie".
Als Essayistin überprüft sie in "Homezone" (2012) den vielgedeuteten und widersprüchlichen Begriff Heimat anhand von skurrilen, witzigen und ehrlichen Alltagsepisoden. Ihr Lyrikband "Danebengeschrieben" erschien 2016 im Drey-Verlag.
"Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin" wurde 2017 bei Klett Cotta verlegt. Im gleichen Jahr erschien die Reiseerzählung "Wilde Wälder und Gedankenflieger". Ingeborg Gleichauf lebt in Freiburg.
Mehr Informationen: www.gleichauf.eu

Ingeborg Gleichauf - Als habe ich zwei Leben - Brigitte Reimann
Mitteldeutscher Verlag, erschienen 06/2024
Paperback, 168 Seiten
ISBN 978-3-96311-711-4
Euro 18,00
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.mitteldeutscherverlag.de

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Beitrag vom 15.09.2024

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