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Beitrag vom 16.10.2018
Nora Krug - Heimat. Ein deutsches Familienalbum
Bärbel Gerdes
"Home is where the heart is" - wo mein Herz ist, dort ist meine Heimat. Was aber, wenn die Heimat so belastet ist durch seine furchtbare Geschichte, dass diese sich selbst über ferne Länder hinweg in den Alltag schleicht und präsent ist? In ihrem zutiefst beeindruckenden Graphic Memoir konfrontiert die in New York lebende Illustratorin und Zeichnerin Nora Krug sich selbst und ihre Familie mit der Vergangenheit und fragt, was Heimat bedeutet.
Seit mehr als 17 Jahren lebt Nora Krug in New York. Sie ist mit einem amerikanischen jüdischen Mann verheiratet. Eine ihrer ersten Begegnungen in den USA geht ihr nicht aus dem Kopf. Erst vor kurzem nach New York gezogen, stand sie auf der Dachterrasse einer Freundin, als eine alte Frau, die ebenfalls dort saß, Krug fragte, ob sie aus Deutschland sei. Nachdem sie dies bejahte, erkundigte sich die junge Studentin vollkommen unbedarft, ob die alte Frau schon einmal in Deutschland gewesen sei. Erst die Erwiderung "vor sehr langer Zeit" ließ Nora Krug verstehen. Die Frau erzählte von ihrem Überleben im Konzentrationslager. Sechzehn Mal habe eine KZ-Aufseherin sie im letzten Moment vor der Gaskammer gerettet, vermutlich weil die Aufseherin in sie verliebt gewesen sei – eine Frau die alle anderen im Lager mit gnadenloser Gewalt schikanierte.
Auf einer der ersten Seiten der Graphic Memoir blickt die Leserin in die Gesichter auf den Schwarz-Weiß-Fotos von neun KZ-Aufseherinnen im Jahr 1945.
Was diese Begegnung bei Nora Krug auslöste, waren Scham und Schuldgefühle. In einem Gespräch mit der FAZ bekräftigt die Autorin, sie glaube an Hannah Arendts Satz "Wo alle schuldig sind, ist es keiner". Trotzdem empfindet die mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Geborene gegen alle eigenen Überzeugungen ein kollektives Schuldgefühl.
Sie begann sich zu erinnern, wie über Konzentrationslager in Deutschland gesprochen wurde: hinter vorgehaltener Hand, im Flüsterton. Als Kind dachte sie, Juden und Jüdinnen gäbe es nur in der Bibel. "Sie erschienen mir ungreifbar wie eine schon lange ausgestorbene Tierart." Auf der nächsten Seite stürzt uns das brennende Paulinchen aus dem Struwwelpeter entgegen, von der die kleine Nora lernt, dass man kein Mitleid mit sich haben darf, wenn man für sein Verderben selbst verantwortlich ist. Der Krieg war in ihrer Kindheit stets präsent, blieb aber unbeachtet wie die Löwenkopfterrine meiner Großmutter.
Nora Krug, die seit 2007 an der Parsons School of Design in New York lehrt und dort eine Professur hat, verbindet Comicelemente, Fotografien, das alte Schulheft ihres Onkels, Postkarten und Archivdokumente zu einer großen Collage. Durch ihre akribische Recherche will sie herausbekommen, wie es wirklich war in ihrer Familie während der Zeit des Faschismus´, vor allem, wie ihr Großvater sich verhalten hat und was es auf sich hat mit ihrem Onkel, der denselben Namen trägt wie ihr Vater, den sie aber nie kennengelernt hat, weil er achtzehnjährig im Zweiten Weltkrieg fiel. Die 1977 in Karlsruhe geborene Künstlerin arbeitet ihre eigene Kindheit und Jugend auf: Das Ansehen des Films Nacht und Nebel im Schulunterricht und damit die erste visuelle Konfrontation mit den entsetzlichen Leichenbergen in den Konzentrationslagern, Klassenreisen nach Frankreich und Polen und das Wort Vergangenheitsbewältigung. "Wir lernten keine alten Volkslieder. Wir taten uns schwer mit der Bedeutung des Wortes HEIMAT." Nichts lernte sie über die Geschichte ihrer Heimatstadt und dem, was dort geschehen war.
Nora Krug will auch ihre widerstreitenden Gefühle besser verstehen, Scham und Schuld, doch auch Sehnsucht nach Deutschland. Im Notizbuch einer heimwehkranken Auswanderin lesen wir vom deutschen Wald, vom tröstenden Hansaplast und von Uhu, dem starken Kleber, der es aber auch nicht vermag, Bruchstellen zu verdecken. Krug besucht deutsche Vereine in den Vereinigten Staaten, deren deutschen Stolz sie nicht teilen kann, und beobachtet mit gemischten Gefühlen die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2014.
Ihr deutsches Familienalbum ent-deckt die widersprüchlichen Erzählungen, die es über ihren Großvater gibt. Er habe Juden versteckt, heißt es. Er sei in der NSDAP gewesen, heißt es auch. Woher hatte er, der frühere Chauffeur eines jüdischen Unternehmers, das Geld für den Aufbau einer eigenen Fahrschule?
In dem Schulheft ihres Onkels liest sie seinen Aufsatz Der Jude, ein Giftpilz. Es erfordert große Anstrengung, schreiben zu lernen. Wie sehr musste mein Onkel sich anstrengen, um den Aufsatz über den Giftpilz zu schreiben? fragt Krug bestürzt.
Die Autorin zeigt die verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, der seine furchtbaren Fühler bis heute auch in deutsche Familien hineingräbt. Der Krieg war mit 1945 nicht zu Ende. Seine Auswirkungen leben fort.
Ihre Verwandten wurden als Mitläufer eingestuft. "Bei diesen Menschen ist die Schuldfrage viel schwerer zu definieren. Man kann weder Schuld noch Unschuld klar beweisen. Wie geht man damit um?" fragt sie in der Zeit
AVIVA-Tipp: Auf fast 300 Seiten zeichnet und schreibt sich die Künstlerin in die deutsche und in ihre eigene Familiengeschichte hinein. Die Vielschichtigkeit der Perspektiven, die Nora Krug einnimmt, der Mut und die Mühe, mit denen sie ihre Recherchen angeht, und die künstlerische Umsetzung machen ihr Heimatbuch zu einem großen Werk. Das wahrlich deutsche Familienalbum, lädt dazu ein, die eigene Familiengeschichte in all ihren Facetten zu betrachten.
Zur Autorin: Nora Krug wurde 1977 in Karlsruhe geboren. In Liverpool, Berlin und New York studierte sie Bühnenbild, Dokumentarfilm und Illustration. Ihre Zeichnungen und Bildergeschichten erscheinen regelmäßig in großen Tageszeitungen und Magazinen (u.a. "The New York Times", "The Guardian", "Le Monde diplomatique"). Sie ist Fulbright-Stipendiatin und erhielt zahlreiche Preise und Förderungen, u.a. der John Simon Guggenheim Memorial Foundation, der Pollock-Krasner Foundation und der Maurice Sendak Foundation. Krug ist Professorin für Illustration an der "Parsons School of Design" in New York und lebt in Brooklyn. (Verlagsangaben).
Mehr Infos zur Autorin unter: nora-krug.com
Nora Krug
Heimat. Ein deutsches Familienalbum
Penguin Verlag, erschienen am 27.8.2018
288 S., durchgehend farbig, gebunden
ISBN 978-3-328-60005-3
28,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.randomhouse.de
Mehr Informationen – Interviews und Beiträge zu Nora Krug und "Heimat. Ein deutsches Familienalbum":
www.daserste.de
www.youtube.com
www.zeit.de
www.deutschlandfunkkultur.de
FAZ
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