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AVIVA-BERLIN.de im September 2024 - Beitrag vom 04.08.2024


trotzdem sprechen – Herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff
Dr. Nikoline Hansen

Trotzdem sprechen? Ja, Massaker machen sprachlos. Aber als Leserin dieses Buches gewinnt man den Eindruck, dass es den Herausgeberinnen in erster Linie nicht darum geht, sondern vielmehr um die Empörung über eine Gesellschaft, die vermeintlich Denkverbote erlässt.




Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die Sammlung von einer Vielzahl mehr oder weniger bekannter Akteurinnen und Akteure des deutschen Kulturbetriebs, die laut Klappentext in einer "neuen Isolation oder gar Angst" gefangen sind. Weiter heißt es: "Es häufen sich offene Briefe, Veranstaltungsabsagen und Begriffsstreitereien in einem Ton der Endgültigkeit". Tatsächlich ist das ein Phänomen, das gerade nach dem 7. Oktober vermehrt zu beobachten ist. Aber was ist die Ursache für diese immer komplizierter werdende quasi Gesprächsunkultur? Die Herausgeberinnen möchten dem gerne auf den Grund gehen. Gelungen ist das leider eher nicht.

Unversöhnliche Gedanken

Es ist sehr offensichtlich, dass auch die Autorinnen und Autoren der einzelnen Essays fast ausschließlich in einer ihnen eigenen Gedankenwelt leben. Entweder haben sie eine sehr einseitige Sicht oder sie sind bemüht aus dieser einseitigen Sicht heraus eine andere Perspektive einzunehmen, oder sie schreiben über ihre persönliche Betroffenheit. Und über das Hadern damit, dass es so schwierig ist, sich auszutauschen. Was letztlich stimmt und auch einer Reihe der Beiträge anzumerken ist. Ganz offensichtlich haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte kulturelle Narrative entwickelt, die offensichtlich wenig Raum zum Atmen lassen. In den Häufig schwimmt purer Antisemitismus in Form von Israelhass mit – eine Entwicklung, die sich besonders im deutschen Kulturbetrieb sehr genau verfolgen lässt und viele Jahre weitestgehend ignoriert wurde. So stellt man sich eher auf die Seite des "underdog" – und das sind nach dem gängigen Narrativ die Palästinenser, denn die Israelis werden als stark und unverwüstlich wahrgenommen, die ihre Feinde in Schach halten. Israel muss stark sein um sich effektiv gegen seine Feinde wehren zu können, denn Israel ist das einzige Land, in dem Juden/Jüdinnen als Juden bzw. Jüdinnen leben können, ohne ständig mit Antisemitismus im Alltag konfrontiert zu sein. Israelis haben keine Alternative, als ihr Land gegen die Angriffe des Teils ihrer arabischen Nachbarn zu verteidigen, der Israels Existenz als Störfaktor im Nahen Osten betrachtet. Nicht umsonst wird in Deutschland das Existenzrecht Israels so oft betont. Die Tatsache, dass dies als "Staatsräson" betrachtet wird, zeigt allerdings, dass die Unterstützung eher widerwillig erfolgt und nicht deshalb, weil es sich um die einzige Demokratie im Nahen Osten handelt, die Werte wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verfolgt, sondern weil man sich "in der historischen Schuld" sieht. Ein echtes Dilemma, wie sich jetzt herausstellt.

Der Versuch einer Einordnung

Wenn man es schafft, bis Seite 107 durchzuhalten, wird man endlich auch einmal auf eine ausgewogenere und realistischere Darstellung treffen. Autorin ist die Schriftstellerin und Vizepräsidentin der Akademie der Künste Kathrin Röggla aus Köln. Sie schreibt, sie habe sich Zeit lassen können gedanklich, allerdings: "Die Affekte waren gleich da. Das Entsetzen. Aber ich blieb in dieser affektiven Unschärfe des Schocks, und ich kann meine Unschärfe kaum noch korrigieren, denn der Diskurs schlägt Volten, verändert sich rasch." Und: "Ich ärgere mich, hätte die Gräuel der Hamas stärker adressieren müssen." Mit dieser Erkenntnis ist sie sicher nicht alleine, obwohl sich der Eindruck aufdrängt, dass die Gräuel der Hamas gerne in den Hintergrund geraten, wenn es darum geht, die israelische Politik der Zerstörung der militärischen Infrastruktur, also insbesondere des Tunnelsystems in Gaza zu verurteilen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass sehr viele Menschen, gerade auch im akademischen Bereich, zwar eine feste Meinung hatten (und leider oft auch noch haben), sich ansonsten aber einfach nicht für das Thema interessierten, da es ihnen "zu komplex" erschien, so Katharina Röggla weiter: "Den Nahostkonflikt habe ich vermieden – toxisch, zu kompliziert, ein Pulverfass – jahrelang schreckliche Nachrichten aus der Region, Menschrechtsverletzungen gegen Palästinenser, Terror von palästinensischen Gruppierungen oder Einzelpersonen, eine heillose Situation. Zudem bin ich, was Antisemitismus betrifft, erstaunlich uninformiert." Sie referiert auf einen Text von Jean Amery, "der es in sich hat. Er stammt aus den späten Sechzigern und analysiert den neuen Antisemitismus der Linken. Seine Volte ist der Antizionismus, unter dessen Deckmantel alte gedankliche Muster auftauchen, die gewalttätige Opfer-Täter-Umkehrungen betreiben. Es ist eben nicht nur, dass das Existenzrecht des Staates Israel in Abrede gestellt wird, sondern auch wie." Die Reflektiertheit der Autorin ist beeindruckend und auch die Themen, die sie in ihrem Essay anspricht, verdienen Beachtung, so wie sie sehr scharfsinnige Schlussfolgerungen zieht aus den merkwürdigen Diskussionen etwa über den Umgang mit der Möglichkeit von Antisemitismusklauseln bei der Beantragung von öffentlichen Fördergeldern und Diskussionen über den Boykott Israels beziehungsweise israelischer Künstler:innen, die derzeit sehr emotional in der akademischen Öffentlichkeit und besonders auch von Kunstschaffenden geführt werden.

Das palästinensische Narrativ

Bis man sich zu diesem Aufsatz durchgearbeitet hat, gilt es allerdings eine Reihe von Zumutungen zu ertragen. Das betrifft besonders den ersten Beitrag, der so einseitig ist, wie man bei der unvoreingenommenen Rezeption vermutet hat, nachdem man die Kurzbiographie des Autors gelesen hat: Es ist Nazih Musharbash, geboren 1946 in Amman, aufgewachsen in Bethlehem und Beit Jala, seit 2018 Präsident der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft (DPG). Es ist also durchaus nachvollziehbar, wenn er sich auf diese Seite der Geschichte schlägt. Warum ihm dieser prominente Platz an erster Stelle zugewiesen wird und damit quasi ein Rahmen für das Buch, hätten sich die Herausgeberinnen fragen sollen. Denn der Eindruck, der bleibt, verstört. Die Wirkweise der Anschuldigungen ist subtil. Etwa: "Es bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn dieselbe deutsche Regierung sich lange nicht einmal für eine Feuerpause aussprach. Auch hier geht Vertrauen verloren. Viele in der palästinensischen Community empfinden diese Haltung als antipalästinensisch, einseitig und zynisch." Wie bitte? Einem überfallenen Land soll die Berechtigung abgesprochen werden, sich möglichst effektiv zu verteidigen? Ist das eine ernstzunehmende Forderung an die deutsche Regierung? Aus palästinensischer Sicht sicherlich. So konstatiert Musharbach weiter: "Es besteht ein Generalverdacht gegen Palästinenser, gegen Muslime und Araber." In diese Kategorie steckt er auch die Forderung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der es nicht vermocht habe, "die richtigen Worte zu finden, als er von den in Deutschland lebenden palästinensischen, arabischstämmigen und muslimischen Menschen forderte, sich persönlich von der Hamas und von Antisemitismus zu distanzieren." Musharbash nutzt die Strategie der Suggestion, wenn er einmal mehr behauptet, man dürfe Israel nicht kritisieren: "Aber es gibt nach meinem Ermessen einen Unterschied zwischen Solidarität mit Israel und unkritischem Abnicken jeder Entscheidung der israelischen Regierung. Das Erste fällt für mich unter die deutsche Staatsräson. Das Zweite nicht." Hat er eigentlich mal das Abstimmungsverhalten Deutschlands in der UN beobachtet? Stimmt es tatsächlich, dass Entscheidungen der israelischen Regierung "unkritisch abgenickt" werden? Die Antwort darauf möge jede/r selbst finden. Dabei aber bitte die realen Äußerungen des Auswärtigen Amts und der EU mit einbeziehen. Jammern gehört zum Geschäft. So schreibt der Autor: "Ich selbst habe noch die Stimmen von Palästinensern im Ohr, die mir erzählten, wie sie vor 1948 ganz selbstverständlich ihren jüdischen Nachbarn zu religiösen Feiertagen gratulierten und umgekehrt. Das sind die tradierten Erinnerungen, an die wir an knüpfen müssen!" 1948 war er zwei Jahre alt, und sicher verklären sich Erinnerungen mit der Zeit. Andererseits fordert er eine Zweistaatenlösung mit "schmerzhaften Kompromissen" – für wen die Kompromisse schmerzhafter sein sollen, sagt er nicht. Nur: "Der Kern des Konflikts ist der Anspruch zweier Völker auf dasselbe Stück Land." Ja, das stimmt – allerdings gab es seit Jahrzehnten wiederholt Angebote, die auch für die jüdischen Partner sehr schmerzhaft waren und trotzdem von der arabischen Seite ausgeschlagen wurden. So schreibt er, dass die Palästinenser hinnehmen mussten, dass Israel zur Heimstätte der "(von den Europäern verfolgten und vertriebenen) Juden" geworden sei und sie damit die Nakba erlitten hätten – ein Narrativ, das den Europäern eine Verantwortung zuschiebt, die sie nur teilweise haben. Und weiter, dass "die Folgen der Nakba nachwirken und nachwirkten werden". Ja, das tun sie – nach 70 Jahren noch immer und in erster Linie deshalb, weil es politisch gewollt ist. Darum kümmert sich die UNRWA, die von Terroristen der Hamas infiltriert ist, die auch an den Verbrechen am 7. Oktober beteiligt waren, und Lobbygruppen wie die DPG, deren Präsident für sich in Anspruch nimmt, Deutscher zu sein. Was also sucht er in "Palästina"? Sein Treiben erinnert an Heimatvertriebenenverbände, allerdings wird es von der Welt erheblich unterstützt, im Gegensatz zu allen anderen Interessenvertretungen Vertriebener. Trotzdem klagt er an: "Das palästinensische Volk sehnt sich nach Frieden und Gerechtigkeit. Wir warten seit Jahrzehnten darauf, dass unser verbrieftes Recht auf Selbstbestimmung von der Weltgemeinschaft unterstützt wird. Wir wollen, dass wir selbst endlich über jenes Land, das uns nach internationalen Abkommen und internationalem Recht zusteht, nämlich im Westjordanland und Gazastreifen, bestimmen können. Dass die Besatzung des Westjordanlands und die Landnahme durch radikale Siedler ein Ende hat." Ja, letzteres wollen wohl die meisten, auch eine Mehrheit der Israelis, die im demokratischen Prozess dafür die falsche Regierung gewählt hat. Andererseits: Das ist nicht das Friedenshindernis. Wäre der Hass, den die arabische Gesellschaft gegenüber Israel in den letzten 70 Jahren geschürt hat, damit vorbei? Könnte es wirklich Frieden geben? Der Krieg mit Gaza, ein Stellvertreterkrieg für das iranische Terrorregime Iran, zeigt anderes. Die Hamas hält die Fäden dort in der Hand – und hat noch immer das Existenzrecht Israels nicht anerkannt – täte sie das, hätte sie wohl keine Chance, sollte es jemals wieder zu Wahlen in den Gebieten kommen, weiter an der Macht zu bleiben. So geht es weiter, etwa mit der Empörung darüber, die deutsche Debatte sei auf den 7. Oktober fixiert. Was meint er damit? Der 7. Oktober war eine Kriegserklärung, und die Gefahr, dass sich ein derartiger Überfall auf die israelische Zivilbevölkerung wiederholen kann, ist noch nicht gebannt, das kündigt die Hamas ganz offen an. Pathetisch endet der Aufsatz mit den Worten der hier schamlos instrumentalisierten Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer: "‚Es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein islamisches Blut.‘ Wir sind alle Menschen. Das Blutvergießen muss beendet werden. Zum Frieden gibt es keine Alternative." Ja, da hat er Recht – aber wie stellt er sich das vor solange eine Organisation in dem Land, für das er sich einsetzt, an der Macht ist, die keinen Frieden will?

Lawfare

Krieg kennt viele Fronten. Eine davon nennt sich lawfare, auf Deutsch: Juristischer Krieg. Der Nahostkonflikt ist nicht der einzige Krieg, in dem diese Art der Kriegführung zum Einsatz kommt; Beispiele dafür gibt es etwa aus Südamerika. Dabei handelt es sich um das Ausnutzen legaler Mittel, um den Feind in Misskredit zu bringen – letztlich eine Gefahr für Demokratien, wenn versucht wird, sie mit ihren eigenen Mitteln der Rechtsstaatlichkeit zu delegitimieren. Israel ist solchen Angriffen in letzter Zeit vermehrt ausgesetzt – und die Ergebnisse überraschen nicht, wenn man sich ansieht, welche Ausbildung die Jurist:innen erhalten, die sich mit den entsprechenden Themen befassen. In dem Essayband kommt die promovierte Juristin Nahed Samour zu Wort mit dem Titel "Kritische Allianzen und die Rolle des Rechts" und sie setzt gleich eingangs eine fragwürdige Prämisse: "Wie jedoch können diese Allianzen realisiert werden, noch dazu gegebenenfalls in der Öffentlichkeit und nicht nur in Geschlossenen, sicheren Räumen (wo sie häufig stattfinden), wenn sie derzeit auf einer ungleichen, auch rechtlich ungleichen, Grundlage stattfinden? … Der Eindruck, dass staatliche und gesellschaftliche Hierarchien verfestigt werden, ergibt sich jedenfalls, wenn die "Figur des Juden" als per se schützenswert(er) gilt und die "Figur des Palästinensers" als per se eine, die es zu überwachen gilt, die grundsätzlich antisemitisch und damit nicht schützenswert erscheint. Vor diesem Hintergrund können Grund- und Menschenrechte von Palästinenser:innen jederzeit verletzt und dies im Namen der Staatsräson gerechtfertigt werden." In einer Fußnote gibt sie diverse Artikel aus verschiedenen Tageszeitungen an, die die Rechtfertigung ihrer These stützen sollen.

Dabei geht es insbesondere auch um die Verbote von Demonstrationen, beispielsweise die antisemitischen AlQuds Aufmärsche in Berlin, zu der lange Jahre wiederkehrend offen zu Judenhass aufgerufen wurde und in deren Verlauf es ebenso wiederholt zu Angriffen auf als als Juden erkennbare Personen kam. Die Durchsetzung dieses Verbots haben sich die damit befassten Stellen tatsächlich nicht leicht gemacht, denn die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut in Deutschland. Das Verbot hat nichts mit Staatsräson zu tun, sondern damit, dass diese Demonstrationen regelmäßig zum Anlass genommen wurden, zu Straftaten aufzurufen und sie daher den öffentlichen Frieden gefährdeten.

Aber dass sich diese allgemein aufgestellte These der Diskriminierung einzig aus dieser spezifischen Tatsache herleitet, das erfährt man nur, wenn man sich die Fußnoten anschaut. So fährt sie fort: "Im Folgenden soll es vor dem Hintergrund dieser Ungleichheiten darum gehen, die Rolle des Rechts in den Blick zu nehmen." Und wieder eine Mutmaßung: "Dabei wäre es zunächst wichtig, anzuerkennen, dass sich die verschiedenen Communitys in Deutschland nicht auf Augenhöhe begegnen können." Sie stellt sodann die verwegene These auf, dass deutsche Gerichte die Menschen, die vor ihnen stehen, nicht gleich behandeln: Mit anderen Worten bedeutet das, dass Deutschland ein Unrechtsstaat ist. Als Argument führt sie auf, dass "alle proisraelischen Veranstaltungen oder Gegenkundgebungen, auch solche, die zum Einsatz von Gewalt gegenüber Palästinenser:innen aufrufen, stattfinden."

Da ich viele dieser Demonstrationen selbst besucht habe und sowohl die Gewalt verherrlichenden palästinensischen Demonstrationen verfolgt habe, von denen oft Straftaten ausgehen, muss ich sagen, dass mich die Aussage, dass auf pro-israelischen Demonstrationen zu Gewalt gegen Palästinenser:innen aufgerufen wurde, sehr irritiert hat, denn das habe ich noch nie erlebt. Ein Blick in die Fußnote 6 klärt auf: "Beispielhaft und unwidersprochen Ron Prosor, israelischer Botschafter in Deutschland, auf der Kundgebung am 22.10.2023 am Brandenburger Tor: ‚Wir müssen jetzt im Gazastreifen die gesamte Infrastruktur des Terrors beseitigen – und wenn wir das tun, möchte ich wirklich kein "Ja, aber" mehr hören…. Diesmal müssen wir bis zum Ende gehen.‘ Nachzulesen bei" und es folgt als Quellenangabe ein Artikel im Tagesspiegel vom 23.10.2023. Nun muss man sagen: Da wurde nicht gegen Gewalt gegen Palästinenser aufgerufen, sondern gegen Terroristen – auch gerne als "Kämpfer" bezeichnet, also eine Kriegspartei, Personen, die israelische Zivilist:innen getötet und in Geiselhaft genommen haben, was allen internationalen Konventionen widerspricht. Dabei wurde mit keinem Wort zu Gewalt gegen Menschen aufgerufen, wie Samour behauptet, sondern gegen die zu terroristischen Zwecken genutzte Infrastruktur.

Wer die Fußnote nicht liest, wird mit einem vollkommen falschen Bild der Situation in die weitere "Beweisführung" entlassen. Denn sie nutzt dies, um weiter vermeintliche Asymmetrie und Differenzen zu beklagen: "Diese Differenz besteht darin, dass staatlich und gesellschaftlich den Rechten der einen Seite weitaus mehr Gewicht und Bedeutung zugeschrieben wird, als der anderen Seite." Beweise findet dafür findet sie bei einer schwarzen Literaturwissenschaftlerin, die vor Sexismus, Rassismus und Klassismus warnt. Dazu zählen dann wohl auch die Verbote wie "das Zeigen von Kennzeichen, Symbolen oder Emblemen dieser Organisationen" – gemeint ist damit wohl u.a. die im November 2023 verbotene Organisation Samidoun, die explizit die Hamas unterstützt, wobei sie generell von "propalästinensischen Organisationen" spricht. Nachdem sie sich noch ausführlich dem Verbot der Parole "From the river to the sea" gewidmet hat und zu dem Ergebnis kommt: "Auf diese Weise wird ein Slogan, der sich aus einem Wunsch nach Emanzipation und gegen Fremdherrschaft herausgebildet hat, als ausschließlich gewalttätig, gefährlich und terroristisch gelesen und verboten. Das Gericht zeigt, dass es palästinensischen Rechten, Geschichte und politischen Forderungen keinen Raum zu geben gewillt ist."

Ergänzend dazu sollte vielleicht erwähnt werden, dass zu dem Zeitpunkt, als das Berliner Verwaltungsgericht mit dem Fall befasst war, eine übermäßige Gewaltbereitschaft auf palästinensischer Seite vorherrschte, und Juden und Jüdinnen massiv bedroht und sogar körperlich angegriffen wurden, wenn sie Israel verbal verteidigten, sodass der Slogan automatisch von ihnen als "gewalttätig, gefährlich und terroristisch" aufgefasst werden musste. Nach meiner Einschätzung und offensichtlich auch der des Gerichts war er durchaus so gemeint, denn nicht nur die verbale, auch die physische Gewalt gegen Juden und Personen, die sich mit Israel solidarisch zeigen, hat sich seit dem 7. Oktober weiter manifestiert. Davon zeugen nicht zuletzt die gewalttätigen Demonstrationen, bei denen Menschen, die sich mit Israel solidarisch zeigen, eingeschüchtert und angegriffen werden. Die Gewaltbereitschaft einzelner palästinensischer Demonstrant:innen hat inzwischen ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Der Aufsatz endet mit Referenz auf "die Dringlichkeit der Gewalt- und Genozidfrage" – und ist damit wieder im Bereich der juristischen Kriegführung angekommen. Nahed Samour scheint keine Probleme mit dem Titel des Buchs zu haben – sie spricht nicht "trotzdem", sondern jetzt erst Recht.

Diskursverschiebung Sprechverbot

In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeberinnen, dass die Öffentlichkeit erwartet, "sich auf eine Seite zu stellen". Ist das so? Den Eindruck habe ich nicht, allerdings habe ich das Gefühl, dass eine demokratische Diskussionskultur längst gerade deshalb zugrunde geht, weil der Kompass dafür verloren gegangen ist, was menschlicher Umgang miteinander eigentlich bedeutet. Und ja, dazu kommt das Starren auf die Schlange: "die Gefahr von rechtsradikalen Regierungen in Landesparlamenten steht im Raum, das populistische Nebengeräusch dazu liefern Politiker:innen, die von Abschiebungen sprechen, während andere bereits "Remigration" planen und Deportationen meinen." Ja, gegen solche Dinge sollte und muss man sich verwehren, aber sie lenken ab vom eigentlichen Problem: Der Auflösung der Demokratie zugunsten eines vermeintlichen Denkverbots. Der möglicherweise auch im privaten oder beruflichen Umfeld zutage treten kann: "Freundschaften, Allianzen und Schicksalsgemeinschaften sind durchzogen von Risslinien des Misstrauens, Menschen reagieren mit einer sie lähmenden Vorsicht der Öffentlichkeit gegenüber – jedes "falsche" Wort könnte zum Abbruch des Gesprächs führen oder dazu, dass man als öffentliche Stimme nicht mehr erwünscht ist." Ist das so? Die sehr diversen Aufsätze zeigen keine Denkverbote und auch keinerlei Eingriff der Herausgeberinnen, auch wenn sie einseitige Fehlinformationen verbreiten.

Was die Herausgeberinnen antreibt, beschreiben sie deutlich am Ende des Vorworts:
"Vor allem aber hoffe ich, dass der Krieg endlich ein Ende findet, die Menschen Nahrung, Schutz und medizinische Hilfe bekommen, die überlebenden Geiseln freigelassen werden und zu ihren Familien zurückkehren, die Menschen ihre Toten begraben und betrauern können. Und dass trotz der nie wiedergutzumachenden Zerstörung die Hoffnung am Leben bleibt, dass eine Zukunft möglich ist, die besser wird, als sie diejenigen herbeisehnen, deren Herzen nur die Angst und der Hass antreibt." Das ist ein merkwürdiges Ansinnen, nach den zuvor ausgesprochenen berechtigten Forderungen. Denn offen bleibt, wen sie meinen, wenn sie hier von Angst und Hass sprechen. Und vor allem: Darum geht es in diesem Krieg nicht, es ist ein Machtkampf, der vor allem die Existenz eines der beiden Protagonisten beenden soll. Schade, dass diese Ursache nicht klar benannt und formuliert wird. In diesem Buch durfte zumindest alles gesagt werden – auch wenn es grober Unfug ist.

Fazit

Das Buch folgt offensichtlich schwerpunktmäßig dem palästinensischen Narrativ und zieht nur vorsichtig auch die israelische und jüdische Perspektive mit ein. Es ist also mit dem Vorbehalt zu lesen, dass in erster Linie die eigenen Befindlichkeiten der jeweiligen Autorin beziehungsweise der Autoren im Vordergrund stehen und teilweise in pseudowissenschaftliche Hüllen verpackt werden. Vielleicht ist auch diese Selbstbezogenheit für die Herausgeberinnen ein Grund für das Gefühl, dass Sprechen zu einem Problem geworden ist. Wichtiger als sprechen wäre zuhören – und zwar allen und nicht nur denen, die sowieso der eigenen Meinung sind. Das Lesen dieses Buches ist insofern eine Zumutung, und doch zugleich lehrreich. Dazu kommt das derzeit weit verbreitete Phänomen, dass Menschen sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen, wenn ihnen mit einmal Konsequenzen drohen, wenn sie Hass oder Unwahrheiten verbreiten. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, der öffentliche Frieden und die Würde des Einzelnen ein höheres.

AVIVA-Tipp: Das Buch sollte nur lesen, wer gute Nerven hat und damit leben kann, dass einmal mehr die berechtigten Sorgen von Jüdinnen und Juden kaum reflektiert und nur von jenen wahrgenommen werden, die selbst mit entsprechenden Erfahrungen konfrontiert wurden. Allerdings ist es ein sichtbarer Beweis dessen, wie weit das Problem der Diskursverschiebung inzwischen in den akademischen Bereich eingedrungen ist.

Trotzdem Sprechen
Herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff
Mit Beiträgen von Carolin Emcke, Nazih Musharbash, Maryam Zaree, Kathrin Röggla u.v.a.
Verlag: Ullstein Hardcover
Gebunden, 224 Seiten
ISBN: 9783550203046
Erscheinungsdatum: 25.04.2024
Preis: 22 €
Mehr zum Buch unter: www.ullstein.de

Weiterlesen:

Siebter Oktober Dreiundzwanzig
Vojin Saša Vukadinović (Hg.)
20,00 €
456 Seiten
Querverlag, erschienen 2023
ISBN: 978-3-89656-344-6

Der Überfall der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem rund 1200 Menschen ermordet und etwa 5000 weitere schwer verletzt wurden, war das brutalste antisemitische Pogrom seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Auf den Straßen der westlichen Welt wurde das Massaker, das der Zivilbevölkerung gegolten hatte, bisweilen unverhohlen bejubelt. Damit markiert dieses Datum auch eine Zäsur für die Debatten um Antizionismus und Identitätspolitik, denn das "progressive" Milieu, das unentwegt einen antirassistischen Anspruch einfordert, beschweigt nicht nur die Motive hinter dem Massenmord, sondern akzeptiert die unmittelbare Aufforderung zur Zerstörung des jüdischen Staates. An Demonstrationsaufrufen wie "Queers for Palestine" zeigt sich, dass der antiisraelische Konsens mittlerweile nicht mehr nur die Queer Theory, sondern weite Teile der Universitäten und des Kulturbetriebs dominiert. Dieser Sammelband führt erste Analysen zum Terrorangriff und den Folgen zusammen.
Mit Beiträgen von Ruşen Timur Aksak, Tamar Aphek, Soma M. Assad, Güner Balcı, Alessandro Barberi, Camila Bassi, Marco Antonio Cristalli, Niels Betori Diehl, Ioannis Dimopulos, Chantalle El Helou, Faika El-Nagashi, Emrah Erken, Cem Erkisi, Kirill Grebenyuk, Arash Guitoo, Anastasia Iosseliani, Žarko Janković, Fatma Keser, Aras-Nathan Keul, Sama Maani, Roni Fantanesh Malkai, Peshraw Mohammed, Armin Navabi, Ahmad A. Omeirate, Arye Sharuz Shalicar, Veronica Szimpla, Ali Ertan Toprak, Miro Verdel, Vojin Saša Vukadinović und Kathy Zarnegin.
(Quelle: Querverlag)
Mehr zum Buch unter: www.querverlag.de



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Beitrag vom 04.08.2024

AVIVA-Redaktion